Dissertation

Continuity Illusion und Musik. Ein Hörphänomen zwischen physiologisch und kulturell determinierter Wahrnehmung

Die Metadaten zu meiner Arbeit können samt Abstracts (in deutscher und englischer Sprache) im Österreichischen Bibliothekenverbund unter dem Permalink http://permalink.obvsg.at/AC07811032 abgerufen werden.

Die Arbeit in drei Sätzen:
  1. Zentral ist die Frage, welche Strategien der musikalischen Wahrnehmung unveränderbar (weil angeboren) sind, und welche im Lauf des Lebens erlernt werden
  2. Als Testmethode kommt der auditive Kontinuitätseffekt zum Einsatz, der über Lücken in Schallsignalen hinwegzutäuschen vermag, sofern diese Lücken entweder durch den Verdeckungsmechanismus maskiert werden oder in einer Komponente des Musikstücks liegen, die der Hörer (unbewusst) in den auditiven Hintergrund verschiebt
  3. Durch gezielte Positionierung der Lücken in Schallsignalen und der Bewertung dieser Signale im Zuge empirischer Untersuchungen werden darüber Kenntnisse gewonnen, welcher Anteil am gesamten Hörerlebnis jeweils erlernten Wahrnehmungsstrategien (Einteilung des Gehörten in Melodie/Begleitung, Gewichtung in schwere/leichte Taktzeiten) oder physiologischen Faktoren (Hörkurven, Verdeckungsgesetze) zukommt
Abstract (deutsch)

Wird ein Ton kurzfristig unterbrochen und die dadurch entstandene Lücke mit Rauschen gefüllt, so wird die Unterbrechung nicht mehr als eine solche wahrgenommen. Der Ton scheint vielmehr kontinuierlich weiterzuverlaufen, jedoch an der Stelle der Unterbrechung vom Rauschen verdeckt zu sein.” (Reuter 2002, S. 1) Im Sinne dieser Defintion des auditiven Kontinuitätseffekts (auch “Continuity Illusion”) unterscheiden sich die in vielen Untersuchungen zur Anwendung gebrachten Versuchsdesigns schon seit den ersten Tests Mitte der 1950er Jahre nur unwesentlich. Die Erforschungsgeschichte ist spätestens seit Bregmans “Auditory Scene Analysis” (1990) in der Psychoakustik und Musikpsychologie zu verorten. Diese Fachrichtungen gehen in der Regel davon aus, dass Effekte wie die Continuity Illusion auf einer “biologischen” Wahrnehmungsebene zum Tragen kommen und daher in verschiedensten Kontexten jeweils durch dieselben Mechanismen hervorgerufen werden. Dies legt in der Folge die Verwendung standardisierter und normierter Versuchsdesigns nahe, um eine gerade im Bereich der Naturwissenschaften vielfach angestrebte größtmögliche Verallgemeinerung der Ergebnisse zu erzielen. Variabilitäten in Bezug auf Hörer, Kulturen und Klänge fällt unter diesem Forschungsparadigma eine weitgehend marginale Rolle zu. Aus musikwissenschaftlicher Sicht jedoch bleibt nachzutragen, dass jedes bewusste Hörerlebnis über psychoakustisch bedingte Universalien hinaus kulturell determinierten bzw. erlernten Parametern unterliegt. Dennoch bilden die aus standardisierten Versuchen gewonnenen Erkenntnisse eine solide Basis für weiterführende Untersuchungen, die sich einer Continuity Illusion “im weiteren Sinn”, bezogen auf Kontexte des Musik-Erlebens, widmen können.
Diesbezügliche Ansätze konnte ich bereits in meiner Diplomarbeit (Dreier 2005) erarbeiten und testen — demzufolge untersucht die vorliegende Arbeit die Continuity Illusion nicht anhand von Ton-/Geräusch-Signalen, sondern anhand realer Musikbeispiele. Grundlage für die Untersuchung bildet die Operationalisierung des Höreffekts auf Basis eines wissenschaftstheoretischen Axiomatisierungsmodells. Diese geht aufgrund bisheriger Forschungsergebnisse (u.a. Dreier 2005) davon aus, dass der auditive Kontinutitätseffekt auf einer prozesshaften auditiven Figur-/Hintergrundstrukturierung (Thurlow 1957) basiert. Mit der Operationalisierung geht einher, dass jeweils psychoakustische Grundphänomene und kulturell determinierte Faktoren benannt und hinsichtlich ihrer Relevanz für das Auftreten einer Continuity Illusion im auditiven Hintergrund untersucht werden. In einem nächsten Schritt werden die daraus gewonnenen Indikatoren auf zwei völlig verschiedene Musikkonzepte angewandt. Auf der Basis detaillierter Analysen der jeweiligen Musikkonzepte wird jeweils ein einem Konzept entsprechendes Fallbeispiel herausgegriffen und mit Lücken versehen, die jeweils einer der beiden unabhängigen Variablen (psychoakustisch/kulturabhängig) zugeordnet werden können. Die Ergebnisse des daraus entwickelten Experiments geben zunächst Aufschluss über mögliche Verteilungen der Variablen innerhalb des auditiven Kontinuitätseffekts. Darüber hinaus zeigen sie, dass das Auftreten des Effekts tatsächlich überwiegend daran gebunden ist, dass sich die Unterbrechung im auditiven Hintergrund befindet. Diese Beobachtung erlaubt auf der Basis der Testergebnisse Rückschlüsse auf die Wahrnehmungsstrategien, die eine westlich geprägte Stichprobe auf das jeweilige Musikkonzept anwendet. Unter anderem legen die Untersuchungsergebnissen nahe, dass eine Continuity Illusion “im weiteren Sinn” vermehrt dann auftritt, wenn das erlernte, kulturell geprägte Hörkonzept sich von dem Musikkonzept des zu bewertenden Items grundsätzlich unterscheidet.